NeeDz – verstehende Diagnostik herausfordernden Verhaltens von Menschen mit Demenz

Mit der verstehenden Diagnostik suchen die Pflegekräfte der Rheinhessen -Fachklinik Alzey Ursachen für das herausfordernde Verhalten von Menschen mit Demenz und bewirken in vielen Fällen eine Reduktion der verordneten Psychopharmaka

Datum:

13.09.2021

Ort:

Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Interviewpartner:

Imane Henni-Rached, André Hennig

Themenkategorie:

Umsetzung der Konzertierten Aktion Pflege

Maßnahme:

NeeDz – verstehende Diagnostik herausfordernden Verhaltens von Menschen mit Demenz

Projektanlass

Fachverbände fordern seit Jahren, dass primär nicht-medikamentöse Maßnahmen vor Psychopharmakagabe angewendet werden sollen (siehe DGPPN/DGN S3-Leitlinie Demenzen): "Soweit es die klinische Situation erlaubt, sollten alle verfügbaren und einsetzbaren psychosozialen Interventionen ausgeschöpft werden, bevor eine pharmakologische Intervention in Erwägung gezogen wird" [1]. Die verstehende Diagnostik ist ein Ansatz, der einen Zugang zu dem Empfinden des Menschen mit Demenz sucht. Durch die Einnahme der Sichtweise des Menschen mit Demenz können Verhaltensweisen nachvollziehbarer gemacht werden. Die persönliche Umgebung, das soziale Miteinander und die Biografie des Menschen mit Demenz werden in die Betrachtung miteinbezogen. Ein "Verstehen" macht die Bedürfnisse des Menschen mit Demenz sichtbarer und ermöglicht das Einleiten passender Maßnahmen.

Projektumsetzung

Im Rahmen der verstehenden Diagnostik werden mehrere einzelne evidenzbasierte Interventionen miteinander kombiniert (siehe auch Abbildung NeeDz Interventionen). Nach Absetzen bzw. Reduktion der Psychopharmaka wird eine vertiefte biografische Anamnese durchgeführt. Im Anschluss werden, bei Bestehen konkreter Bedürfnisse, nach dem Serial Trial Intervention (STI)-Ansatz spezifische Maßnahmen ergriffen. Sollten diese Maßnahmen keine ausreichende Wirkung zeigen, wird eine psychosoziale Einzelaktivierung durchgeführt.

Die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse über den Menschen mit Demenz werden mit Angehörigen in einer Angehörigensprechstunde ausgetauscht. Individuelle Therapie- und Handlungsempfehlungen werden formuliert und den nachsorgenden Akteuren zur Verfügung gestellt.

Dieser gesamte Prozess wird durch eine Advanced Practice Nurse (APN) initiiert, verantwortet, evaluiert und teils selbst durchgeführt.

Projektbeurteilung

Die Pflege kann durch die verstehende Diagnostik herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz verringern. Dabei begegnen die Fachkräfte dem herausfordernden Verhalten mit evidenzbasierten psychosozialen Maßnahmen. Durch diesen Prozess werden die Pflegekräfte sichtbarer in der interprofessionellen Zusammenarbeit und können auf Augenhöhe mit den übrigen Berufsgruppen agieren.

Daten zum Modell

Datum:

13.09.2021

Ort:

Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Interviewpartner:

Imane Henni-Rached, André Hennig

Themenkategorie:

Umsetzung der Konzertierten Aktion Pflege

Maßnahme:

NeeDz - verstehende Diagnostik herausfordernden Verhaltens von Menschen mit Demenz

Name der Einrichtung
Anschrift

Rheinhessen-Fachklinik Alzey (AöR)

Dautenheimer Landstraße 66

55232 Alzey
 

Kaufmännischer Direktor: Dipl. Betriebswirt Alexander Schneider

Ärztlicher Direktor:  Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Michael Huss

Pflegedirektor: Dipl. Pflegewirtin (FH) Isabella Müller

Website

http://www.rheinhessen-fachklinik-alzey.de

https://www.landeskrankenhaus.de/aktuelles/projekte-im-landeskrankenhaus/needz

Ansprechpartner der Maßnahme

Imane Henni-Rached, Pflegeexpertin APN, M.Sc., i.henni-rached@rfk.landeskrankenhaus.de

André Hennig, Wissenschaftliche Projektleitung, a.hennig@rfk.landeskrankenhaus.de

Struktur- und Leistungsdaten (2021)
Anzahl Betten Psychiatrie vollstationär292

Ärzt*innen insgesamt (außer Belegärzt*innen)

87,26 Vollkräfte

Pflegefachpersonen Psychiatrie vollstationär165,97 Vollkräfte
Projektmotivation / -vorbereitung

Ausgangslage

  • Bei Menschen mit einer Demenzerkrankung kann es zu sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen kommen, wie z. B. Rufen, Schreien, ruheloses Umherlaufen, Aggressivität oder Apathie
  • Nicht selten ist dies der Grund für die Aufnahme in die stationäre Gerontopsychiatrie.
  • Psychopharmaka bei herausforderndem Verhalten stellt bis auf Risperidon eine Off-Label-Behandlung dar; hoch heterogene Wirksamkeit bei vielfältigen und häufigen Nebenwirkungen
  • In der Rheinhessen-Fachklinik Alzey waren die Mitarbeiter:innen unzufrieden mit der dominant medikamentösen Behandlung von Menschen mit Demenz in der Gerontopsychiatrie.
  • Im Rahmen des NeeDz-Projekts wurde daher untersucht, warum sich ein Mensch mit Demenz auf eine spezielle Weise verhält.
  • Die entwickelte "verstehende Diagnostik" ist ein Ansatz, der einen Zugang zu dem Empfinden des Menschen mit Demenz sucht. Durch die Einnahme der Sichtweise des Menschen mit Demenz können Verhaltensweisen nachvollziehbarer gemacht werden. Die persönliche Umgebung, das soziale Miteinander und die Biografie des Menschen mit Demenz werden in die Betrachtung miteinbezogen.

Am Projekt beteiligte Berufsgruppen/Personen

  • Pflegedirektion, pflegerische Bereichsleitungen,  Stationsleitungen, APN, beteiligte(r) Chefarzt/Chefärztin und Ärzt:innen, Therapeuten:innen (z.B. Ergotherapeut:innen Physiotherapeut:innen) Geschäftsführung

Externe Projektförderung und Kooperationen

  • Das Projekt wurde bis 2020 zu 50% durch das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz gefördert.  
Projektumsetzung

Ziele

  • Steigerung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz und deren Angehörige
  • Reduktion von herausfordernden Verhaltensweisen der Betroffenen
  • Entlastung der Angehörigen und betreuenden Personen
  • Reduzierung der Wiederaufnahmeraten

Projektdauer

  • von 05/2019 bis 07/2021; jetzt Regelversorgung

Eingeführte Maßnahmen

  • Sämtliche Maßnahmen werden durch eine Advanced Practice Nurse (APN) initiiert, verantwortet, getragen und evaluiert:
  • Umsetzung des Konzepts zunächst auf einer Station, danach langsame Dissemination in andere Bereiche der Gerontopsychiatrischen Abteilung
  • Einschluss- und Ausschlusskriterien:
    • Die NeeDz-Intervention zielt auf Menschen mit der gesicherten Diagnose einer Demenz bei denen ein herausforderndes Verhalten entsprechend der angepassten Klassifizierung nach der Cohen-Mansfield-Skala und deren Ergebnis im Mini-Mental-Status-Test unter 24 liegt. Ausgeschlossen sind Patienten mit bestimmten chronischen psychischen und Verhaltensstörungen neben der Demenz:
      • a) psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen;
      • b) Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen;
      • c) Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, sofern nicht durch Demenz verursacht;
      • d) Intelligenzstörung.
  • Interventionen
    • Im Rahmen der verstehenden Diagnostik werden mehrere einzelne evidenzbasierte Interventionen sinnvoll miteinander kombiniert, was dem Ansatz des Care Bundles entspricht:
      • Absetzen bzw. Reduktion von Psychopharmaka
      • Vertiefte biografische Anamnese
      • Serial Trial Intervention (STI)
      • Psychosoziale Einzelaktivierungen
      • Angehörigensprechstunde
      • Therapie- und Handlungsempfehlungen
        • Viele Menschen mit Demenz nehmen psychoaktive Medikamente ein, deren Wirkung, Dosierung oder Anwendungsdauer durchaus fraglich sein kann.
          • Daher wird innerhalb der ersten 3 Tage des NeeDz-Prozesses (gemeinsam mit den Ärzten) auf das (1) Absetzen, bzw. die Reduktion bzw. auf eine mindestens 7-tägige sinnvolle Reduktion von Psychopharmaka hingewirkt, auch um erkennen zu können, welches Verhalten gegebenenfalls medikamenteninduziert ist.
          • Über eine (2) vertiefte biografische Anamnese über den Menschen mit Demenz selbst, dessen Angehörige oder ihn versorgende Pflegekräfte wird das herausfordernde Verhalten vor dem Hintergrund der Biografie betrachtet. Mit diesem Wissen suchen die Pflegekräfte zudem nach unbefriedigten Bedürfnissen als mögliche Auslöser für herausforderndes Verhalten z.B. Schmerzen, Hunger, Durst, Geborgenheit, Identität, Geräuschpegel, Wärmegrad, etc. Vom Standpunkt des NeeDz Konzepts können Psychopharmaka in vielen Fällen vermieden werden, wenn besser auf die Bedürfnisse der Patienten eingegangen wird.
          • Diese strukturierte Suche nach Auslösern für herausforderndes Verhalten orientiert sich an dem evidenzbasierten Ansatz der (3) Serial Trial Intervention (STI). Sofern konkrete Bedürfnisse identifiziert werden konnten, finden gezielte Maßnahmen durch das multiprofessionelle Team, bestehend aus Pflegekräften, Ärzten, Therapeuten sowie dem Sozialdienst, Anwendung.
            1. Körperliches Assessment und Maßnahmen (Hat der Patient Hunger/Durst? – Essen/Getränke reichen.)
            2. Affektives Assessment und Maßnahmen (Stress durch Umgebung? Z.B. Herausholen des Patienten aus lauter in komplett ruhige Umgebung.)
            3. Psychosoziale Interventionen (Anspruch: mind. drei Interventionen: z.B. Massagen, Aromatherapie, Erinnerungstherapie, MAKS-Therapie [Motorische, Alltagspraktische, Kognitive und soziale Aktivierung])
            4. Analgetika-Versuch entsprechend Bedarfsmedikation
            5. Psychopharmakon-Versuch entsprechend Bedarfsmedikation und Prinzipien
          • Sollten diese Maßnahmen nicht greifen, werden den Menschen mit Demenz (4) psychosoziale Einzelaktivierungen zuteil, wie z.B. Erinnerungsarbeit, 10-Minuten-Aktivierung, Musiktherapie, Spaziergang, Handmassage und Aromatherapie.
          • Den größten Teil der Versorgung von Menschen mit Demenz trägt die familiale und ambulante Pflege bzw. die Tagespflege, Wohn-Pflege-Gemeinschaften und Altenpflegeheime sowie der Hausarzt. Die Zeit in der Klinik ist im Verhältnis dazu sehr kurz. Vor diesem Hintergrund wird der Transfer der gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse über den Menschen mit Demenz über die Grenzen der Klinik hinweg besonders bedeutend. Angehörige werden im Rahmen der (5) Angehörigensprechstunde im Umgang mit und dem Deuten von herausforderndem Verhalten unterstützt.
          • Des Weiteren werden (6) Therapie- und Handlungsempfehlungen formuliert und den nachsorgenden Akteuren zur Verfügung gestellt sowie dem Arztbrief beigelegt.
          • Pflegekräfte, Therapeuten (z.B. Ergotherapeuten), Betreuungskräfte (Alltagsbegleiter) wurden speziell auf das Konzept und die Interventionen geschult
  • Prävention
    • Das NeeDz-Projekt zielt zudem auf die Prävention herausfordernden Verhaltens: Ansätze zur Milieugestaltung, zur Aktivierung von Menschen mit Demenz und zur Angehörigen- oder Ehrenamtseinbindung werden kontinuierlich in die tägliche Arbeit eingebunden. Zudem findet über die Anwendung des Dementia Care Mappings (DCM) ein kontinuierlicher Beobachtungs- und Feedback-Prozess zur stetigen Weiterentwicklung einer personenzentrierten Kultur statt.
Projektbeurteilung
  • Für die Berufsgruppe der Pflege erwächst aus dem Projekt heraus eine größere Verantwortung im interdisziplinären Team im Umgang bzw. der Behandlung herausfordernden Verhaltens, welches vermehr mit Bedürfnissen assoziiert werden soll (Veränderung des Mindsets).
  • Mitarbeiter:innen der Pflege, die im Projekt on-the-job qualifiziert wurden, übernehmen eine strukturierte Identifizierung von Auslösern (Trigger) des herausfordernden Verhaltens.
  • Herausforderndes Verhalten wird dezidierter abgebildet und kommuniziert
  • Es entsteht eine verstärkt bedarfsorientierte nicht-medikamentöse und medikamentöse Behandlung
  • Psychopharmaka und deren Nebenwirkungen konnte nachhaltig reduziert werden
  • Angehörige der Patient:innen erhalten eine wertschätzende pflegerische Beratung, mit konkreten Hinweise für die Vermeidung aber auch das Handeln in zukünftigen Krisensituationen
  • Über die Therapie- und Handlungsempfehlungen die den nachsorgenden Akteuren und den Hausärztinnen zugehen, wird das Mindset der verstehenden Diagnostik über die Grenzen der Klinik hinweg zur Kenntnis gegeben
  • Für die Zukunft wäre ein ambulantes, aufsuchendes, proaktives und niedrigschwelliges pflegerisches Konsiliar- und Liaison-Team notwendig, um die Behandlungserfolge zu sichern

[1] DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde; DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) (Hrsg.) (2016) S3-Leitlinie "Demenzen" (Langversion)