„Klinik Inklusiv“ – ein inklusives Pflegemodell

Im Krankenhaus Mara gibt es eine besondere Begleitung für Menschen mit Behinderungen.

Datum:

22.09.2021

Ort:

Krankenhaus Mara gGmbH

Interviewpartner:

Prof. Dr. Doris Tacke, Petra Ott-Ordelheide

Themenkategorie:

Neue Arbeitsteilung und Prozessgestaltung

Maßnahme:

„Klinik Inklusiv“ – ein inklusives Pflegemodell

Projektanlass
Ein Klinikaufenthalt ist für Patient:innen mit komplexer Behinderung in der Regel sehr belastend. Während einer dreijährigen Interventionsstudie wurde erforscht, inwiefern prästationäre Besuche durch Pflegeexpert:innen dazu beitragen, einen Krankenhausaufenthalt für diese Patient:innen bedürfnisorientiert und barrierearm zu gestalten.

Projektumsetzung
Klinische Pflege-Expert:innen und Bezugspflegende sind die Schlüsselpersonen, die diesen Prozess einleiten, planen, begleiten, fördern und überwachen. Ihre zentrale Aufgabe ist es, die Patient:innen zu schützen und so zu begleiten, dass sie/er während einer klinischen Behandlung in der Balance bleibt.

Die Klinischen Pflege-Expert:innen des Krankenhaus Mara führen dazu vor einem elektiven Krankenhausaufenthalt ein prästationäres Aufnahmegespräch und bilden die Brückenfunktion zwischen häuslicher Versorgung/stationärer Wohneinrichtung und Krankenhaus. Sie kümmern sich zusammen mit den Patient:innen intensiv um die Schmerzeinschätzung/Schmerzerfassung sowie die Erfassung/Einschätzung von Stresserleben und Belastung bei den Betroffenen. Ihre Aufgaben umfassen ebenfalls die Information der Patient:innen und ihrer Angehörigen/Bezugspersonen über das Krankenhaus und die Abläufe der bevorstehenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Bei diagnostischen Maßnahmen, vor allem in anderen Abteilungen des Krankenhauses, begleiten sie ihre Patient:innen.

Projektbeurteilung
Elektive Patient:innen mit komplexer Behinderung müssen sich im Krankenhaus sicher fühlen, damit Untersuchungen und Behandlungen möglich werden. Die Aufnahme von prästationär erhobenen lebensweltlichen Informationen in den klinischen Alltag wirkt dabei vertrauensfördernd und sicherheitsstiftend.

Name der Einrichtung
Anschrift

Krankenhaus Mara gGmbH
Maraweg 21
33617 Bielefeld

Klinikleitung

Geschäftsführung: Herr Dr. Ernst/ Herr Kreft

Kaufmännische Leitung: Hr. Dr. Petersmann

Ärztliche Leitung: Hr. Prof. Dr. Berthold, Hr. Prof. Dr. Bien

Fachbereichsleitung Neurologie: Katja Rosenthal- Schleicher

Website

https://www.mara.de/

Ansprechpartner:in der Maßnahme

Prof´in. Dr. Doris Tacke, Diakonin, Fachhochschule der Diakonie gemeinnützige GmbH, Lehrbereich Pflegewissenschaft, doris.tacke@fh-diakonie.de

Petra Ott-Ordelheide, Teamleitung Behandlungskoordination, Krankenhaus Mara gGmbH, Petra.Ott-Ordelheide@mara.de

Projektmotivation / -vorbereitung

Ausgangslage

  • Menschen mit Behinderungen sollen im Sinne der Inklusion im Krankheitsfall in Allgemeinkrankenhäusern behandelt werden
  • Die klinische Betreuung von Personen mit Behinderung ist jedoch nicht an deren Bedürfnissen ausgerichtet
  • Viele Menschen mit komplexer Behinderung haben Angst vor einem stationären Aufenthalt, können sich in der fremden Umgebung kaum orientieren und nur schlecht mit den professionellen Akteuren verständigen
  • Professionelle sind oft zu wenig vorbereitet auf diese Patient:innen, so dass sie häufig nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden und mit Schmerzmitteln unterversorgt werden

Planungen im Vorfeld

  • Praxispartner:innen finden – im klinischen und Wohnbereich der Patient:innen
  • Informationsveranstaltungen in Kliniken und beteiligten Teams, Einrichtungen, Betreuer:innen, Angehörigen
  • Schaffung bzw. Abklärung der obligaten Rahmenbedingungen:
    • Entwicklung eines belastbaren Bezugspflegesystems im Sinne des Primary Nursing
    • Vorhandensein von Klinischen Pflege-Expert:innen für die Zielgruppe der Patient:innen mit hoher fachlicher und akademischer Qualifikation
    • Einbettung der Betreuung von Patient:innen mit Behinderung in ein Versorgungskonzept, in dem eine Vorbereitungsphase zum Vertrauensaufbau und zur Gestaltung eines sicheren Bereiches zwingend verankert ist
    • Eine klare, aber flexible Tagesstruktur, die individuelle Lösungen ermöglicht
    • Verankerung dieses Versorgungskonzeptes im Klinischen Leitbild des Hauses

Am Projekt beteiligte Berufsgruppen/Personen

  • Patient:innen, Angehörige, Mitarbeitende aus Wohnbereichen, klinische Pflege-Expert:innen, Geschäftsführung, Pflegedirektion, (leitende) Pflegende, (leitende) Stationsärzt:innen, Mitarbeitende und Ärzt:innen in Funktionsabteilungen, Mitarbeitende im Transportdienst, Aufnahmemanagement

Externe Projektförderung und Kooperationen

  • Förderung von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW (2016-2019)
Projektumsetzung

Ziele

  • Zielgruppe: erwachsene Menschen mit Komplexer Behinderung, mit kognitiven und kommunikativen Beeinträchtigungen, denen ein Klinikaufenthalt bevorsteht
  • Linderung von Angst und Unsicherheit bei den Zielpatient:innen
  • Verbesserung der Kommunikation mit diesen Patient:innen und verstärkte Einbeziehung der Patient:innen in Entscheidungsprozesse
  • Verbesserte Schmerzerkennung und Behandlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung
  • Verzicht auf freiheitsentziehende Maßnahmen auch in den Funktionsabteilungen

Projektdauer

  • Seit 2016 zunächst im Krankenhaus Mara (internistische & chirurgische Station), anschließend in einer neurochirurgischen Abteilung eines Universitätsklinikums in NRW

Eingeführte Maßnahmen

  • Vor geplantem Klinikaufenthalt besuchen Klinische Pflege-Expert:innen (KPE) die zukünftigen Patient:innen zuhause (Hinweise aus dem Aufnahmemanagement)
    • Dort erfolgt die erste Kontaktaufnahme zu den Patient:innen, Angehörigen und ggf. Mitarbeitenden aus Wohnbereichen
    • Informationsaufnahme anhand eines Aufnahme- Assessments: Was braucht die Patient:in, um sich im Krankenhaus sicher zu fühlen? Welche Situationen könnten angstauslösend wirken? Erhebung von z. B. Einschlafritualen, Vorlieben und Abneigungen. Kennenlernen der Gestiken und Mimik der zukünftigen Patient:innen.
  • Im Anschluss plant die Klinische Pflege-Expert:in den Klinikaufenthalt der Patient:innen:
    • Z. B. Unterbringung einzeln oder mit anderen Patient:innen
    • Wie können Schmerzen eingeschätzt werden?
    • Wahl der Bezug-Pflegeperson (BP) (von Aufnahme bis Entlassung)
    • Information des pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Teams vorab und Terminierung der therapeutischen Maßnahmen entsprechend den Ressourcen der Menschen mit Behinderungen. Die Steuerung der Prozesse erfolgt hier mit dem Ziel, die Ressourcen der Patient:innen zu nutzen und Überlastungen zu vermeiden.
  • Patient:innen werden am Aufnahmetag ohne Wartezeit von den klinischen Pflege-Expert:innen in ihr Zimmer begleitet.
    • Dort können sie mit Unterstützung eigene, mitgebrachte Gegenstände auf vertraute Art arrangieren
  • Anschließend wird die Station inspiziert: Wo bin ich hier? Wer ist hier noch? Was kann ich hier tun? (Orientierung in und vertraut werden mit der neuen Umgebung)
  • Um das Sicherheitsempfinden der Patient:innen zu stärken, werden Prozesse in der Klinik nach Möglichkeit an vertraute Abläufe der Patient:innen angepasst
    • z. B. Rituale bei Nahrungsaufnahme und zum Einschlafen
    • Tages- und Nachtkleidung tragen
    • Individuelle Routinen z. B. Spaziergänge, Zeitung lesen etc.
  • Anpassen der Kommunikation und Information der Patient:innen auf das individuelle Sprachvermögen der Patient:innen
    • Dazu zählt auch, dass verbale und nonverbale Verhaltensweisen der Patient:innen beobachtet und gedeutet werden
  • Bezug-Pflegepersonen und Klinische Pflege-Expert:innen unterstützen Patient:innen bei eigenen Entscheidungen und fördern deren Selbstwirksamkeit
    • Z. B. pflegerische Maßnahmen nur nach Ankündigung und Zustimmung durch die Patient:in. Ablehnungen werden akzeptiert und mit den Patient:innen ein Kompromiss gesucht (wenn z. B. die Patient:in erst einen Kaffee in Ruhe trinken kann, toleriert er/ sie häufig die Körperpflege anschließend besser)
    • Es wird eine vertrauensvolle tragfähige Verbindung aufgebaut
  • Klinische Pflege-Expert:innen und Bezug-Pflegepersonen übernehmen bei elektiven Patient:innen die Koordination für diagnostische und therapeutische Maßnahmen
  • Die Patient:in wird außerhalb der Station grundsätzlich von den Klinischen Pflege-Expert:innen zu Untersuchungen und Behandlungen begleitet.
    • Er/ sie setzt sich dafür ein, dass den Patient:innen stets das Vorgehen mit einfachen Worten erklärt wird
    • Im Vorfeld wurde nach Lösungen gesucht, um freiheitsentziehende Maßnahmen für diagnostische Maßnahmen zu vermeiden
    • Drohen Überforderungen der Patient:innen, werden eingeleitete Maßnahmen unterbrochen, damit sich die Patient:in zunächst erholen kann

Übernahme der Maßnahmen in die Regelversorgung

  • Nach Ende der Förderung wird das prästationäre Assessment weiter durch die klinischen Pflege-Expert:innen angeboten.
    • Klinische Pflege-Expert:innen arbeiten mit einem weiteren Stellenanteil jeweils auf einer der beiden Stationen (Innere, Chirurgie) in der Behindertenmedizin
Projektbeurteilung
  • Wissenschaftliche Begleitung des geförderten Projekts der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW:
    • Aufnahme in die Studie: 22 Patient:innen mit 109 diagnostischen Maßnahmen; lediglich bei 9 Maßnahmen mussten Änderungen im geplanten Ablauf durchgeführt werden, 100 Maßnahmen (diagnostisch und therapeutisch) konnten planmäßig erfolgen; es gab keine Therapie- oder Untersuchungsabbrüche
    • Bei keiner der Patient:innen gab es eine Verlängerung der Verweildauer
    • Durch das Projekt ist die Vernetzung der Abteilungen (intern) im Krankenhaus und deren Zusammenarbeit deutlich verbessert worden
    • Sehr positive Rückmeldungen kamen auch von Angehörigen und Mitarbeitenden in Wohnbereichen: durch stärkere Vernetzung mit dem Krankenhaus und das Kontakthalten waren die externen Unterstützer besser auf die Entlassung der Patient:innen vorbereitet

Weiterführende Maßnahmen

  • Aus dem Ursprungsprojekt heraus wurde eine „Weiterbildung für Pflegende im Krankenhaus: Versorgung und Begleitung von Menschen mit Komplexer Behinderung im Krankenhaus“ entwickelt (Umfang: 125 Unterrichtsstunden)
  • Sinnvoll wäre auch eine Weiterbildung sämtlicher Mitarbeitenden der Stationen, auf die Patient:innen mit komplexer Behinderung aufgenommen werden.
  • Die Klinischen Pflege- Expert:innen benötigen idealerweise neben einer sehr guten Ausbildung (Master Pflege/Gesundheit) die Möglichkeit zur Inanspruchnahme eines Coachings (Rollenklärung, Durchsetzung gegenüber anderen Berufsgruppen z. B. Ärzt:innen)