Modell Safewards

Die kbo - Kliniken des Bezirks Oberbayern gehen mit der Umsetzung des Modells Safewards einen neuen Weg in der Prävention von und im Umgang mit Konflikten.

Datum:

21.09.2020

Ort:

kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost

Interviewpartner:

Prof. Dr. Andreas Fraunhofer, Irmi Breinbauer

Themenkategorie:

Neue Arbeitsteilung und Prozessgestaltung

Maßnahme:

Modell Safewards

Projektanlass
Eine Behandlung auf psychiatrischen Stationen ist nicht selten durch Konflikte und daraus resultierende Eindämmungsmaßnahmen gekennzeichnet. Beide Aspekte beeinflussen sich gegenseitig und somit braucht es ein Konzept, das an beiden Polen ansetzt. Das Safewards-Modell bietet nicht nur eine Erklärung für die Entstehung und Eskalation von Konflikten auf Station, sondern auch konkrete und evidenzbasierte Interventionen zu ihrer Prävention.

Mit einem einstimmigen Vorstandsbeschluss wird das Modell Safewards seit Mai 2019 in den Gesellschaften der Kliniken des Bezirks Oberbayern eingeführt.

Projektumsetzung
Safewards zeigt zehn evidenzbasierte Interventionen auf, um Konflikten und Eindämmungsmaßnahmen gezielt zu begegnen bzw. ihnen vorzubeugen. Auf diese Weise sollen die Erfahrungen, das Wissen und die Haltung des multiprofessionellen Teams bereits präventiv reflektiert werden, um gemeinsam mit den Patient:innen oder Bewohner:innen eine möglichst sichere Abteilung oder Station zu entwickeln. Die nachhaltige Umsetzung der auf den ersten Blick oft einfach wirkenden Interventionen erfordert von den Fachkräften, die eigene Haltung und die eigenen, oft jahrelang eingeschliffenen Handlungen auf den Prüfstand zu stellen.

Nach den Prinzipien des Changemanagements wurde das Modell Safewards zeitgleich in sieben Gesellschaften der Kliniken des Bezirks Oberbayern eingeführt, das kbo Isar-Amper-Klinikum nimmt an diesem Prozess als eine Gesellschaft mit insgesamt neun Einrichtungen teil.

Projektbeurteilung
Durch Safewards wird die Patient:innenautonomie und -partizipation gestärkt, etwa bei der Entscheidung über den gemeinsamen Umgang auf Station oder bei der Festlegung von Therapiezielen. Patient:innen erhalten mehr Rechte, was aber nicht bedeutet, dass sie die Regeln vorgeben, sondern dem multiprofessionellen Behandlungsteam auf Augenhöhe begegnen und gegenseitige Erwartungen klären können.

Name des Krankenhauses
Anschrift

kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost

Vockestraße 72

85540 Haar bei München

Klinikleitung

Geschäftsführer: Franz Podechtl

Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Peter Brieger

Pflegedirektorin: Brigitta Wermuth

Website

http://www.iak-kmo.de

https://www.safewards.net

Ansprechpartner der Maßnahme

Irmi Breinbauer, Fachkrankenschwester Psychiatrie, Irmi.Breinbauer@kbo.de

Thomas Auerbach B.A., Pflegepädagoge, Safewards Trainer. Thomas.Auerbach@kbo.de

Struktur- und Leistungsdaten

Anzahl der Betten im gesamten Krankenhaus

823
Ärzt:innen insgesamt (außer Belegärzte)184 Vollkräfte

Pflegepersonal

Gesundheits- und Krankenpfleger:innen513 Vollkräfte
Altenpfleger:innen62 Vollkräfte
Projektmotivation / -vorbereitung

Ausgangslage

  • Ein Team um Professor Len Bowers am King’s College in London hat das Safewards-Modell entwickelt
  • Es wurden mehr als 1000 Studien ausgewertet und mögliche Faktoren identifiziert, die Konflikte in psychiatrischen Einrichtungen hervorrufen können
  • Insgesamt wurden 10 konkrete evidenzbasierte Interventionen zur Prävention von Entstehung und Eskalation von Konflikten entwickelt
  • Safewards wurde 2018 in die S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang“ als besondere Empfehlung aufgenommen
  • Der Vorstand der Kliniken des Bezirks Oberbayern beschloss im Mai 2019 einstimmig, das Modell Safewards in den Gesellschaften einzuführen

Planungen im Vorfeld

  • Die Implementierung erfolgte in mehreren Kliniken gleichzeitig – nach den Prinzipien des Changemanagements
    • Fokussierung auf Wandlungsbereitschaft und -fähigkeit der multiprofessionellen Teams
    • Umsetzung nach einem klar strukturierten Projektplan
    • Dabei wurde keine inhaltliche Struktur vorgegeben, sondern partizipativ vorgegangen:
      • Je Station wurden 2-3 Interventionsbeauftragte identifiziert, die gemeinsam realistische Meilensteine formulierten und das Gesamtprojekt steuerten (individuelle Einführungskonzepte)
      • Interventionsbeauftragte wurden durch Safewards-Trainer spezifisch geschult und in der Umsetzung begleitet

Am Projekt beteiligte Berufsgruppen/Personen

  • Vorstand für Versorgungsqualität (Patient:innen- und Mitarbeiter:innenfürsorge), Pflegedirektorin, Stabsstelle Pflegeentwicklung und Pflegewissenschaft (in Klinik und auf Konzernebene), Stationsleitungen, Ärztlicher Direktor

Externe Projektförderung und Kooperationen

  • Keine
  • Trainerfortbildungen werden über Fortbildungsbudget finanziert
  • Kosten für Material für die Interventionen ca. 600-700€ pro Station (kreative Gestaltung machen Mitarbeitende selbst)
Projektumsetzung

Ziele

  • Mit evidenzbasierter Komplexintervention Zwang und Gewalt auf den Stationen vermeiden
  • Aggressive Übergriffe von Patient:innen auf Mitarbeitende reduzieren
  • Haltungsänderung bei den Mitarbeitenden (Zulassen von Partizipation und Patient:innenenautonomie, z. B. bei Entscheidungen über den gemeinsamen Umgang auf Station oder beim Festlegen der Therapieziele)
  • Bessere Verständigung mit den Patient:innen

Projektdauer

  • Modellhafte Einführung erster Ideen in 2017
  • Vorstandsbeschluss zur konzernweiten Umsetzung in 2019

Eingeführte Maßnahmen

  • Safewards zielt darauf ab, dass sich die Mitglieder eines multiprofessionellen Teams und Patient:innen auf Augenhöhe begegnen und gegenseitige Erwartungen klären.
    • Wurden Erwartungen abgestimmt, sind diese von allen Seiten zu respektieren. Festlegungen sind bindend.
  • Zu Beginn wurde auf jeder Station eine Ist-Analyse sowie Soll-Bestimmung durchgeführt, um festzustellen, welche Änderungen vorgenommen werden müssen, damit die Station nach Safewards ausgerichtet wird
    • Dabei wurden die Ursprungsfaktoren der Konfliktentstehung herangezogen, die häufig Einfluss auf das Klima auf psychiatrischen Stationen haben:
UrsprungsfaktorenKrisenherdeMitarbeitermodifikationen
Stationsteam oder interne Struktur:
Stationsregeln; Routineabläufe;
Effizienz; Sauberkeit/Ordnung;
Ideologie; Gepflogenheiten & Praxis.
Ablehnung von Anträgen; Aufforderungen
durch Mitarbeiter, Grenzen seizen;
schlechte Nachrichten; Ignorieren
Ängste und Frustration des Personals;
moralische Verpflichtung;
Psychologisches Verständnis;
Teamwork & Beständigkeit; fachliche
Fähigkeiten; positive Wertschätzung
Räumliche Umgebung:
Geschlossene Tür, Qualität,
Isolierungsmöglichkeiten;
Intensivstationen oder
Entspannungs-/Snoozle-Räume
Unübersichtlichkeit; nicht einsehbare
Bereiche; private Bereiche
Fürsorglich wachsam & aufmerksam;
überprüfende Routine
Krankenhausexterne Faktoren:
Besucher, Angehörige & familiäre Spannungen,
geplanter/bevorstehender Umzug,Abhängigkeit & Institutionalisierung,
Anforderungen & häusliche
Verpflichtungen
Versammlungen/Gedränge
Gemeinschaflsakivitäten;
Schlangestehen/Warten/Lärm;
Mobbing/Diebstahl/Sachbeschädigung
Einbeziehung von
Angehörigen/Betreuern;
Familientherapie; aktive Unterstützung
des Patienten
Patientengruppe oder
Patienteninteraktionen:
Nachahmung & Dissonanz
Versammlungen/Gedränge
Gemeinschaflsakivitäten;
Schlangestehen/Warten/Lärm;
Mobbing/DiebstahliSachbeschädigung
Erklärung/information; Rollenbilder,
Patientenschulungen; Vorsorge/
Gefahrenminimierung; Anwesenheit &
aktive Präsenz

Patienteneigenschaften oder
Symptome & demografische
Aspekte:

Wahnvorstellungen;
Persönlichkeitsstörungen;
Reizbarkeit, Enthemmung;
Missbrauchserfahrung; männlich;
Alkohol-Drogenmissbrauch;
Depression; Einsicht;
Sinnestäuschungen &
Halluzinationen; Jung

Verschlimmerungen;
Unabhängigkeitidentität,
AkuitätiSchweregrad
Pharmakotherapie; Psychotherapie &
Funktionsanalysen; Pflegerische
Unterstützung & Interventionen
Regulatorische
Rahmenbedingungen oder externe
Struktur: rechtlicher Rahmen;
staatliche Richtlinien; Beschwerden;
Einsprüche; Strafverfolgung;
Klinikregeln
Unfreiwillige Unterbringung; Ablehnung
von Einsprüchen; abgelehnte
Beschwerden; Zwangsbehandlung
Korrekte Verfahrensweise;
Gerechtigkeit; Respektieren von
Rechten; Weitergabe von Informationen,
Unterstützung bei Einsprüchen;
Rechtmäßigkeit
  • Wenn sich das Stationsteam den Herausforderungen bewusst ist, können Konflikte, Aggressionen und Eindämmungsmaßnahmen reduziert werden. Hierfür wurden zehn Interventionen entwickelt, um (psychiatrische) Stationen sicherer zu machen:
  • Patient:innen einigen sich mit den Pflegenden auf gemeinsame Umgangsformen, sprechen über die Erwartungen des Personals und der Patient:innen. Sie verfassen gemeinsam eine Liste mit den gegenseitigen Erwartungen, die für alle zugänglich ausgehängt wird.

1. Verständnisvolle Kommunikation:

  • Respektvolle und höfliche Gesprächsführung auf beiden Seiten fördern, Patient:innen zuhören und auf Augenhöhe kommunizieren.

2. Deeskalierende Gesprächsführung:

  • Ruhige und bestimmte Kommunikation in entspannter Körperhaltung, eigene emotionale Reaktionen unter Kontrolle haben, die Situation absichern, herausfinden, was das Problem ist und eine Lösung anbieten.

3. Positive Kommunikation:

  • Bei den Übergaben von einer Schicht auf die andere innerhalb des Stationsteams etwas Positives über jede Patient:in sagen. Wenn problematisches Verhalten besprochen werden muss, dann eine mögliche psychologische Erklärung finden. Das fördert die Wertschätzung für die Patient:in und verringert neue Konflikte.

4. Unterstützung bei unerfreulichen Nachrichten:

  • Schlechte Nachrichten für die Patient:innen, die von außen kommen oder die Behandlung betreffen, schonend übermitteln und ein entlastendes Gespräch anbieten.

5. Gegenseitiges Kennenlernen:

  • Von den Patient:innen wissen wir meist sehr viel. Die Patient:innen sollen auch etwas über das Behandlungsteam erfahren, um vielleicht über andere Themen als die Erkrankung in ein Gespräch zu finden. Die Mitglieder der Behandlungsteams sollten Streckbriefe mit unverfänglichen Informationen (z. B. Arbeitsjahre in der Psychiatrie, Lieblingsessen oder Lieblingsfilm) erstellen und diese auf ihren Stationen aushängen. Die Patient:innen werden gebeten, ebenfalls Steckbriefe auszufüllen, die dann für das Behandlungsteam im Pflegebüro aufbewahrt werden.

6. Gemeinsame Unterstützerkonferenz:

  • Gemeinsame und regelmäßige Sitzung, an der die Patient:innen und das Behandlungsteam teilnehmen. Die Sitzung besteht aus vier Runden:
    • In der Danksagungsrunde können sich die Teilnehmenden bei jemanden bedanken, der etwas für sie getan hat.
    • In der Nachrichtenrunde berichten die Mitarbeitenden über Vorfälle oder Dinge, die nicht so angenehm waren und erklären, was an diesem und in den nächsten Tagen ansteht.
    • In der Vorschlagsrunde können alle Teilnehmende Vorschläge machen, wie man in den nächsten Tagen gut miteinander auskommen kann.
    • In der Wünsche- und Angebotsrunde können die Teilnehmenden Wünsche äußern und Angebote machen, diese Wünsche zu erfüllen oder anderweitig zu helfen.
    • Zum Abschluss können alle Teilnehmenden überlegen, wie sie Patient:innen helfen könnten, die nicht in der Lage waren an der Unterstützungskonferenz teilzunehmen.

7. Methoden zur Beruhigung:

  • Wenn Patient:innen angespannt sind, Instrumente zur Beruhigung anbieten, z. B. ein Massageball, ein Kartenspiel oder Musik. Um solche Dinge immer parat zu haben, bietet es sich an, eine Entspannungsbox zu füllen.

8. Sicherheit bieten:

  • Nach beunruhigenden Situationen auf der Station, z. B. Streitigkeiten, die Situation und die Ursachen dafür mit den Patient:innen einzeln oder in der Gruppe besprechen, um ihnen wieder ein sichereres Gefühl zu geben und weitere unangenehme Vorfälle zu vermeiden.

9. Entlass-Nachricht:

  • Am Tag ihrer Entlassung bittet das Behandlungsteam die Patient:innen, eine Nachricht für neue Patient:innen zu hinterlassen. Die Nachrichten werden gut sichtbar auf der Station aufgehängt. Diese Nachrichten sollen anderen Patient:innen ein realistisches Bild von der Behandlung geben, Mut und Hoffnung machen.
  • Eigentliches Pflegemodell, Umsetzung muss aber multiprofessionell erfolgen sonst hat das Modell keinen Erfolg. Ärzt:innen und Therapeut:innen werden in Modell einbezogen – Auswirkungen greifen auch in Therapiesitzungen ein
    • Vor Einführung ist daher eine Diskussion im (multiprofessionellen) Team notwendig, wie die Maßnahmen umgesetzt werden sollen
    • Maßnahmen werden immer individuell an die Situation der jeweiligen Station angepasst (z.T. nur Umsetzung von einigen Maßnahmen bis Umsetzung aller 10 Maßnahmen)
  • 3-tages Schulung der Mitarbeitenden (Multiplikatorenschulung): praxisorientierte Schulung des Modells und der Implementierung. Mittlerweile existiert auch eine kollegiale Beratung untereinander (Aufbau eines internen Netzwerkes)

Auswirkungen der Neuerungen auf die Berufsgruppen und das Klinikum

  • Veränderung der Mitarbeiter:innenhaltung und der Art der Kommunikation. Mitarbeitende erleben, dass es nicht nur in Gruppen(veranstaltungen) um Kommunikation geht, sondern Gesprächsführung auch in „Tür-und-Angel-Situationen“ wichtig ist

Übernahme der Maßnahmen in die Regelversorgung

  • Übernahme in Regelversorgung
  • Modell wurde ursprünglich für die akute Psychiatrie entwickelt, mittlerweile aber auch in anderen Bereichen erfolgreich eingeführt z. B. Gerontopsychiatrie, Demenzstation, Maßregelvollzug und fasst auch schon Fuß in anderen somatischen Bereichen (z. B. Intensivstationen)
  • Bisher sind sieben Gesellschaften der kbo einbezogen, Isar-Amper-Kliniken ist eine Gesellschaft davon mit neun teilnehmenden Einrichtungen
Projektbeurteilung
  • Unterschiedliche Berufsgruppen wachsen mehr zusammen
  • Mitarbeitende sind im Allgemeinen zufriedener, bleiben länger, Teamentwicklung wird besser
    • Man kann jedoch auch einzelne Mitarbeitende verlieren, wenn diese nicht bereit sind, das Modell mitzutragen
  • Durchführung einer formativen Evaluation
  • Insgesamt braucht es ca. zwei Jahre, bis die neue Haltung im Personal angekommen und verankert ist
  • Patient:innen (langjährige Wiederkehrer) bemerken: „Es ist anders bei euch auf der Station. Ihr seid anders.“
  • Psychiatriepatient:innen haben die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen: Es wurden Kommunikationswege gebahnt, dass auch Patient:innen ansprechen können, wenn sich Mitarbeitende nicht an verabredete Vorgehensweisen halten. Teilhabe der Patient:innen wird gesteigert.

„Früher hat häufig nur eine Seite die Bedingungen festgelegt – jetzt sollen und dürfen Patient:innen mitbestimmen.“

Laufende Maßnahmen

  • Weiteres Ausrollen des Modells im Konzern
  • Neue Mitarbeitende auf den Stationen, die bereits nach dem Modell arbeiten, werden fortlaufend geschult