PraxisAnleiterVisite (PAV)
In den Kliniken Ostalb am Standort Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd wurde die PraxisAnleiterVisite (PAV) implementiert. Ein Konzept, das für ein erfolgreiches lernortübergreifendes Modell zum Erwerb von Fallverstehen und Reflexionsfähigkeit steht.
23.07.2020
Kliniken Ostalb gemeinnützige gkAöR, Standort Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd
Ulrike Schleich M.A., Sarah Bayer, Iordana Botosaki
Säule 4
PraxisAnleiterVisite (PAV)
Projektanlass
Schulleitung und Lehrer*innen der Pflegeschule am Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd haben sich im Herbst 2010 zum Ziel gesetzt, ihre Ausbildungsqualität zu verbessern. Der Leitgedanke dabei war, die räumliche Nähe des Klinikums zu nutzen und das Klassenzimmer mithilfe des Patient*innenzimmers zu erweitern.
Mit der autobiografischen Fallerzählung durch die*den Patient*in in der Praxis entstand so ein Lehr-Lern-Arrangement, die PraxisAnleiterVisite, als Ausgangspunkt des gemeinsamen Lernens einer Triade aus Schüler*innen, Praxisanleiter*innen und Pflegepädagog*innen. Primär sollte dadurch das Einüben von Fallverstehen für alle Beteiligten verbessert sowie das professionelle Handeln durch die Möglichkeit zur Reflexion zweiter Ordnung anhand des Settings gefördert werden.
Projektumsetzung
Die PraxisAnleiterVisite wird für Auszubildende im 2. und 3. Ausbildungsjahr zweimal pro Jahr durchgeführt, jeweils über drei Tage (Vorbereitungstag, Durchführungstag, Nachbereitungstag).
In der Vorbereitungsphase wählen die Praxisanleiter*innen dafür Patient*innen mit interessanten Fallbeispielen aus und holen deren Einverständnis zur Teilnahme ein. Die Mitarbeitenden der betreffenden Stationen werden informiert und Absprachen mit den mitwirkenden Expert*innen wie beispielsweise Ärzt*innen, Psychoonkolog*innen oder Pain-Nurses getroffen.
Am Durchführungstag erfolgt nach Klärung der organisatorischen Aspekte eine Patient*innenübergabe in der Arbeitsgruppe aus der Triade aus Schüler*innen, Praxisanleiter*innen und Lehrer*innen. Die Auszubildenden setzten daraufhin ihre Prioritäten für das Patient*innengespräch fest. Im Patient*innenzimmer erzählt die*der Patient*in anschließend ihre*seine Fallgeschichte, die durch Nachfragen der Auszubildenden ergänzt wird. Danach wird ohne Beisein der*des Patient*in das Erleben des Falles in der Triade reflektiert und die mitwirkenden Expert*innen zur Erweiterung der Falldeutung herangezogen.
Am Lernort Schule werden dann Kernthemen zur weiteren Bearbeitung durch die Schüler*innen ausgewählt. Die einzelnen Themen orientieren sich am Lernbedarf und -wunsch der Auszubildenden und können z.B. Pflegebedarfsanalysen, Patient*innenbeobachtungsbogen, Schulungs- oder Beratungsbedarf der*des Patient*in, Versorgungsstruktur der*des Pflegeempfänger*in (Überleitung in ein anderes Versorgungssystem, Entlassmanagement etc.) oder die Einübung bestimmter Pflegetechniken in Bezug auf die Patient*innensituation beinhalten. Die Ausarbeitung der Themen erfolgt stets in Form der Aufgabenstellung eines schriftlichen Examens mit Analyse, Aufgaben der Pflege, Lösungen und Begründung. Mithilfe unterschiedlicher Wissensformen wie z.B. berufliches Erfahrungswissen, wissenschaftliches Wissen oder Alltagswissen soll auf diese Weise ein besseres Fallverstehen erworben werden. Die Lernergebnisse werden gesichert, als Präsentation aufbereitet und in der Gruppe sämtlicher Auszubildender und sonstiger Teilnehmender präsentiert. Als wichtigstes Element steht hier die Reflexion des Erkenntnisgewinns der einzelnen Auszubildenden.
Projektbeurteilung
Im Anschluss an die PAV beurteilen die Teilnehmenden anhand von vorgegebenen Kriterien z.B. die Planung, Organisation, Durchführung, Inhalte oder den Teamgeist an dem Tag. Die Ergebnisse werden verwendet, um die PraxisAnleiterVisite stetig zu verbessern. Ein Ziel der PAV ist die Etablierung von Wissensmanagement. Daher werden die Präsentationen und Erkenntnisse zusammengetragen und gesichert, die Fallsituationen werden zur Übung der Auszubildenden als Fallbeschreibung dokumentiert sowie zum Aufbau einer Fallsammlung für Unterrichtszwecke in der Schule genutzt.
Die Schüler*innen und Praxisanleiter*innen haben während der PAV die Möglichkeit, nicht nur die aktuelle Pflegesituation der*des Patient*in, sondern auch ihre bisher erlebten beruflichen Handlungen zu reflektieren, was insgesamt die Fähigkeit zur Reflexion zweiter Ordnung fördert. Durch die Arbeit mit realen Fällen wird zudem das Sinnverstehen der Auszubildenden gefördert, die Begleitung der Praxisanleiter*innen und Lehrkräfte gibt dabei Sicherheit und ermöglicht eine bessere Konzentration auf die Lernsituation. Die Auszubildenden selbst würden gerne häufiger diese Tage durchführen, da sie nach eigenen Angaben durch das besondere Patient*innengespräch einen tieferen Bezug zu der*dem Patient*in bekommen und dadurch viele Dinge besser erkennen und einordnen können und somit ihren eigenen Lerneffekt als größer einschätzen.
Des Weiteren wird durch die lernortübergreifende Konzeption der offene Dialog von Theorie und Praxis ermöglicht sowie ein tieferes Verstehen der Prozesse auf beiden Seiten gefördert. Zudem sorgt der Eventcharakter für ein lebendiges und attraktives Lernen, bringt allen Beteiligten große Motivation und eine positive Außenwirkung für die Pflegeausbildung im Klinikum.
Anschrift | Gesundheits- und Pflegeschule Kliniken Ostalb gkAöR Standort Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd Wetzgauer Straße 85 73557 Mutlangen |
Klinikleitung | Kaufmännischer Standortleiter Christopher Franken Ärztlicher Standortleiter Prof. Dr. Holger Hebart Pflegerischer Standortleiter Franz Xaver Pretzel |
Website | https://www.stauferklinikum.de/ |
Ansprechpartnerinnen der Maßnahme | Ulrike Schleich M.A. Schulleiterin Gesundheits- und Pflegeschule Kliniken Ostalb gkAöR, Standort Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd ulrike.schleich@kliniken-ostalb.de Sarah Bayer Gesundheits- und Krankenpflegerin, Praxisanleiterin, Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd sarah.bayer@kliniken-ostalb.de Iordana Botosaki Schülerin an der Gesundheits- und Pflegeschule Kliniken Ostalb gkAöR Standort Stauferklinikum Schwäbisch Gmünd (Oberkurs) |
Anzahl der Betten am Standort | 401 |
Ärztinnen/Ärzte insgesamt (außer Belegärzte) | 141 Vollkräfte |
Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen | 285 Vollkräfte |
Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-innen | 48 Vollkräfte |
Altenpfleger/-innen | 9 Vollkräfte |
Ausgangslage
- Herbst 2010: Personelle Veränderungen und Mangel an Konzepten führten bei den Lehrkräften zu Unzufriedenheit über die Ausbildung
- Schulleitung und Team wollten Ausbildungsqualität verbessern
- Leitgedanke: Räumliche Nähe der Klinik nutzen und das Klassenzimmer mithilfe des Patient*innenzimmers erweitern
- PAV-Definition: PraxisAnleiterVisite ist ein Lehr-Lern-Arrangement des gemeinsamen Lernens einer Triade aus Schüler*innen, Praxisanleiter*innen und Lehrer*innen. Ausgangspunkt des Prozesses ist die autobiografische Fallerzählung durch die*den Patient*in in der Praxis.
Planungen im Vorfeld
- „Testlauf“ mit erstem Kurs (20 Teilnehmer): Fallerzählung der*des Patient*in als Ausgangsbasis genommen und mit Schüler*innen, Praxisanleiter*innen, Lehrer*innen, Pflegedienstleitung Auswertungs- und Evaluationsmöglichkeiten besprochen und geplant
- Inhaltliche und zeitliche Evaluation wird nach jeder PAV durchgeführt; Prozess stets angepasst und aktualisiert (Delphi Methode)
Am Projekt beteiligte Berufsgruppen/Personen
- Schulleitung, Lehrer*innen, Praxisanleiter*innen, Pflegedirektion, Stationsleitungen (teilweise), Auszubildende
Externe Projektförderung und Kooperationen
- nein
Ziele
- Einübung von Fallverstehen für alle Beteiligten
- Förderung des professionellen Handelns durch die Möglichkeit zur Reflexion zweiter Ordnung anhand des Settings
- Kompetenzentwicklung bzw. –förderung für Auszubildende, Praxisanleiter*innen und Pflegepädagog*innen
- Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen unter Nutzung der Handlungsspielräume
- Erweiterung und Erwerb verschiedener Wissensformen
- Aufbau einer Fallsammlung zur Systematisierung von Wissen
- Anbahnung einer systemischen Denkweise
- Förderung eines respektvollen Umgangs der Akteure beider Lernorte
Projektdauer
- Seit 2010
- PAV wird für Auszubildende im 2. und 3. Ausbildungsjahr zweimal pro Jahr durchgeführt, jeweils über drei Tage (Vorbereitungstag, Durchführungstag, Nachbereitungstag)
Eingeführte Maßnahmen
- Vorbereitungsphase
- Auswahl und Vorbereitung: Praxisanleiter*innen wählen Patient*innen mit guten Fallbeispielen aus, holen Einverständnis der*des Patient*in (z.B. aus Bereich Hämatoonkologie, Unfallchirurgie, Gastroenterologie, Viszeralchirurgie)
- Information und Absprache mit der Station und Praxisanleitung
- Absprache mit Expert*innen (z.B. Ärzt*innen, Psychoonkolog*innen, Pain-Nurse etc.), Zustimmung zur Teilnahme
- Vorbereitung von Räumen und Arbeitsmaterialien
- Einteilung der Auszubildenden (4-6 Auszubildende aus Mittelkurs und Oberkurs in einer Gruppe) sowie Praxisanleiter*in
- Durchführungstag (Koordination und Moderation durch Pflegepädagog*in)
- Phase I: Klärung des Tagesablaufs und der organisatorischen Aspekte
- Phase II: Patient*inübergabe in der Arbeitsgruppe (Triade). Praxisanleiter*in stellt Patient*in vor, Schüler*innen können Fragen stellen und Prioritäten für Phase III setzen
- Phase III: Patient*innenbesuch: Im Patient*innenzimmer erzählt Patient*in ihre*seine Fallgeschichte. Kasuistik wird durch Nachfragen der Auszubildenden ergänzt (Interaktion aus Nachfragen und Erleben bzw. Sinneswahrnehmung der Beteiligten)
- Phase IV: Blitzlicht und Expert*innenrunde: Ohne die*den Patient*in wird das „Erleben“ des Falles reflektiert. Expert*innen wie Oberärzt*innen, Stationsärzt*innen, Physiotherapeut*innen, Pain-Nurses etc. werden zur Erweiterung der Falldeutung herangezogen.
- Phase V: Arbeitsphase-Konzepterstellung: am Lernort Schule werden Kernthemen, je nach Lernbedarf der Auszubildenden, ausgewählt und bearbeitet, z.B. Erstellung Pflegebedarfsanalyse, Patient*innenbeobachtungsbogen, Schulungs- oder Beratungsbedarf der*des Patient*in, Versorgungsstruktur der*des Pflegeempfäng*erin (Überleitung in ein anderes Versorgungssystem, Entlassmanagement etc.). Ausarbeitung erfolgt in Form der Aufgabenstellung des schriftlichen Examens (Analyse, Aufgaben der Pflege, Lösungen, Begründung). Ggf. Einübung bestimmter Pflegetechniken in Bezug auf die Patient*innensituation. Mithilfe unterschiedlicher Wissensformen (z.B. berufliches Erfahrungswissen, wissenschaftliches Wissen, Alltagswissen) soll ein Fallverstehen erworben werden. Die Triade sichert ihre Lernergebnisse, bereitet Präsentation vor.
- Phase VI: Ergebnispräsentation: In einem 15-minütigen Vortrag präsentiert die Triade ihre Ergebnisse. Wichtiges Element: Reflexion des Erkenntnisgewinns.
- Phase VII: Evaluation: Teilnehmende beurteilen anhand von Kriterien die Planung, Organisation, Durchführung, Inhalte oder den Teamgeist an dem Tag. Ergebnisse sollten PraxisAnleiterVisite stetig verbessern.
- Nachbereitungstag: Ziel ist die Etablierung von Wissensmanagement. Präsentationen und Erkenntnisse werden zusammengetragen und gesichert. Fallsituationen werden zur Übung der Auszubildenden als Fallbeschreibung dokumentiert sowie zum Aufbau einer Fallsammlung für Unterrichtszwecke in der Schule genutzt.
Maßnahmen zur Evaluation / Evaluationsergebnisse
- Phase VII des Durchführungstags wird zur stetigen Verbesserung der PAV genutzt.
- Auszubildende und Praxisanleiter*innen haben während der PAV die Möglichkeit, nicht nur die aktuelle Pflegesituation der*des Patient*in, sondern auch ihre bisher erlebten beruflichen Handlungen zu reflektieren (Fähigkeit zur Reflexion zweiter Ordnung)
- Durch die Arbeit mit realen Fällen wird das Sinnverstehen der Schüler*innen gefördert, die Begleitung der Praxisanleiter*innen und Lehrkräfte gibt dabei Sicherheit und ermöglicht eine bessere Konzentration auf die Lernsituation. Ein Effekt der Reflexionsprozesse bei der PAV ist es, Stärken und Defizite der beruflichen Alltagsroutine aufzudecken. Positiver Beitrag zur Förderung des Theorie-Praxis-Dialoges.
- Perspektive der Lehrenden: Auszubildende bekommen ganzheitliche Sicht auf die*den Patient*in (Steigerung der Komplexität bei emotionalen Schilderungen der*des Patient*in), systematisieren ihre Beobachtungen und lernen am Modell. Besonderer Lerneffekt besteht auch durch kursübergreifende Zusammenarbeit der Auszubildenden (gegenseitige Unterstützung)
- Perspektive der Praxisanleiter*innen: Praxisanleiter*innen haben in der PAV die Möglichkeit, ihr Fachwissen sowie ihr implizites Wissen „explizit auszubreiten“. Patient*in geht selbst auch in einen Reflexionsprozess, wirkt daher oft anders als bei den Übergaben. Dadurch reflektieren auch die Praxisanleiter*innen ihre eigene Pflegearbeit und erkennen gute Prozesse sowie Veränderungsbedarf.
- Perspektive der Auszubildenden: Man hat mehr Zeit zur Verfügung und bekommt einen anderen Bezug zu der*dem Patient*in. Dadurch kann man Dinge besser erkennen und einordnen, hat großen Lerneffekt. Auszubildende hätten gerne noch häufiger PAV‘s
- Durch die lernortübergreifende Konzeption wird der offene Dialog von Theorie und Praxis ermöglicht sowie ein tieferes Verstehen der jeweiligen Systeme auf beiden Seiten
- Der Eventcharakter sorgt für ein lebendiges und attraktives Lernen, bringt allen Beteiligten große Motivation und eine positive Außenwirkung für die Pflegeausbildung im Klinikum
- Die PAV bringt auch über die unmittelbar beteiligte Triade hinaus eine gute Atmosphäre ins Klinikum: Die Ausbildung zeigt sich im Lernen den Patient*innen und macht diese „zum Teil“ des Lernens. Diese Form der Ausbildung wird gerne von den Ärzt*innen gesehen und von diesen unterstützt.
Planungen für die Zukunft
- Im Rahmen des neuen Pflegeberufegesetzes wird überlegt, ob für die PAV eine Bewertung der Auszubildenden eingeführt werden soll bzw. erforderlich ist.
- Ggf. sollen zukünftig alle 2-3 Monate mit ¾ der Auszubildenden besondere Patient*innen (mit deren Teilnahme) besprochen werden