Ersteinschätzung und Behandlungspfade in der Zentralen Notaufnahme

In der Zentralen Notaufnahme des Klinikum Frankfurt (Oder) GmbH waren seit 2006 jährliche Anstiegsraten von 7 % der Patientenkontaktzahlen zu verzeichnen. Patientinnen und Patienten wurden einer unstrukturierten, nicht standardisierten Ersteinschätzung durch das administrativ aufnehmende pflegerische Fachpersonal unterzogen. Auf der Grundlage einer ausführlichen Problem- und Ursachenanalyse wurden Anfang 2009 konkrete Anforderungen zur Verbesserung der Situation definiert und umgesetzt. Die Kombination des Einsatzes von EDV-gesteuerten patientenorientierten Behandlungspfaden und der Ersteinschätzung durch hoch qualifizierte Pflegekräfte ist äußerst erfolgreich. Die Mitarbeiterzufriedenheit ist erheblich verbessert und die Anzahl der Patientenbeschwerden ist deutlich reduziert worden

Datum:

04.04.2012

Ort:

Klinikum Frankfurt (Oder) GmbH

Interviewpartner:

Dr. Petra Wilke, Chefärztin Zentrale Notaufnahme

Themenkategorie:

„Neue Arbeitsteilung und Prozessgestaltung“

Maßnahme:

Ersteinschätzung in der Zentralen Notaufnahme

Patientenbeschwerden aufgrund zu langer Warte- und Aufenthaltsdauern eskalierten. Zusätzlich bestand eine erhebliche Unzufriedenheit des zuweisenden rettungsdienstlichen Personals bedingt durch unstrukturierte Voralarmierungen und Übergabeprozeduren. Die nahtlose Versorgungskette präklinischer – klinischer Versorgung im Bereich der Schnittstelle Notaufnahme gestaltete sich suboptimal. Zudem führten fehlende interdisziplinäre leitlinienkonforme Standardvorgehensweisen (Standard Operating Procedures bzw. SOPs) bei hohen Fluktuationsraten im ärztlichen Bereich mitunter zu defizitären Versorgungsabläufen. Lange Wartezeiten, Kommunikationsdefizite, suboptimale Ressourcenverwendung in labordiagnostischen und bildgebenden Bereichen waren die Folge.

Projektumsetzung
Auf der Grundlage einer ausführlichen Problem- und Ursachenanalyse wurden Anfang 2009 konkrete Anforderungen zur Verbesserung der Situation definiert. Für die Zielbereiche „Risikomanagement“, „Patientenversorgung“ und „Kennzahlen/Prozessanalyse“ wurden Anforderungen vorgegeben. Den Anforderungen entsprechend wurde ein EDV-Programm zusammen mit einer Software-Firma entwickelt.

Das Programm basiert auf einem als Einstiegs-Score verwendeten symptomorientierten Ersteinschätzungssystem mit direkter Anknüpfung von leitliniengerechten Behandlungsempfehlungen durch flexible, patientenorientierte Behandlungspfade als prozessorientiertes Instrument. Die standardisierte Ersteinschätzung kann eine Dringlichkeit, Priorität und Behandlungsreihenfolge empfehlen und im Rahmen des Risikomanagements die Entscheidungen nachvollziehbar und dokumentiert abbilden. Die Krankheitsschwere wird nach definierten Parametern, Entscheidungskriterien und Indikatoren ermittelt und empfohlen. Umgesetzt wurde ein 5-stufiges Ersteinschätzungssystem mit hoher Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität.
Dieses Vorgehen ermöglicht eine Empfehlung eines standardisierten Vorgehens: Nach einheitlichen Mustern werden die einzelnen Schritte des Behandlungspfades angezeigt und dienen dem Arzt als Empfehlung - die Therapiefreiheit des Arztes wird nicht angetastet. 

Neben dem ursprünglich an das Manchester-Triage-System (MTS) angelehnte Ersteinschätzungsverfahren wurde die standardmäßige Erhebung von Vitalparametern implementiert und ergänzend mit der Behandlungspriorität aus dem Emergency Severity Index (ESI) verknüpft.

Die Umsetzung der symptomenorientierten Ersteinschätzung erfolgte nach zweitägiger Schulung aller 18 examinierten Pflegekräfte. Voraussetzung für die Schulung war, dass die examinierten Pflegekräfte mindestens ein Jahr in der Notaufnahme tätig waren. Im Rahmen dieser Schulung werden u. a. der Ablauf einer Ersteinschätzung, die Schmerzeinschätzung sowie Kenntnisse über den Massenanfall von Schwerverletzten vermittelt. Hierbei erfolgt nicht nur eine Vermittlung von theoretischem Wissen, sondern es erfolgen auch praktische Übungen mit Fallbeispielen. Inhalte sind außerdem juristische Fragestellungen der Einschätzung und der Bedeutung der Dokumentation.
Alle Pflegekräfte werden darüber hinaus im Jahresturnus weiter geschult, um die Qualität der Ersteinschätzung ständig hoch zu halten.

Im Rahmen der Ersteinschätzung durch Pflegekräfte erhalten die Patienten anhand der Behandlungsdringlichkeit eine Farbkodierung. Die Abstufung reicht hier von „sofortige Behandlung“ über „dringend“ bis hin zu „nicht dringend“.

Projektbeurteilung
Die Kombination des Einsatzes von EDV-gesteuerten patientenorientierten Behandlungspfaden und die Ersteinschätzung der Patienten durch hoch qualifizierte Pflegekräfte ist äußerst erfolgreich. Die Mitarbeiterzufriedenheit ist deutlich verbessert worden. Die Anzahl der Patientenbeschwerden reduzierte sich um die Hälfte auf nunmehr 0,5 Beschwerden pro Monat.

Monatlich werden randomisiert 2 % aller Patienten durch die pflegerischen Ersteinschätzungs-Beauftragten auf Validität und vollständige Dokumentation evaluiert. Zusätzlich erfolgte ärztlicherseits jährlich eine Auswertung von 2.300 Patienten (Fallzahl eines Monats), inwieweit die Ersteinschätzung pflegerischerseits mit dem ärztlichen Untersuchungsbefund sowie der Aufnahmediagnose und der daraus resultierenden klinischen Behandlungsdringlichkeit korrelierte. Die Auswertung ergab unter Kombination von MTS/ESI eine Sensitivität von 96 % sowie eine Spezifizität von 99 %.

Das Projekt ist auch wirtschaftlich sinnvoll, da durch die Verbesserung der Prozesse unnötige Diagnosen und Therapien vermieden werden. Die Personalbindung in der Zentralen Notaufnahme konnte verbessert werden. Die Effizienz einer strukturierten differentialdiagnostischen Herangehensweise zeigt sich ökonomisch insbesondere in einer Reduktion der Verweildauer von aufgenommenen Patienten: Fehlbelegungen wurden vermieden, durch zielgerichtete Diagnoseabläufe wurden die „richtigen“ Aufnahmediagnosen gestellt und Patienten bereits in der Notaufnahme ohne Unterbrechung der Behandlungskette intensivmedizinisch betreut (z.B. bei non-invasive Beatmung) 

Name des Krankenhauses
AnschriftKlinikum Frankfurt (Oder) GmbH
Müllroser Chaussee 7
15236 Frankfurt (Oder)
KlinikleitungGeschäftsführer
Mirko Papenfuß

Ärztlicher Direktor
Thomas Funk

Pflegedirektor
Dr. rer. medic. Michael Ossadnik
Webseitewww.klinikumffo.de
Ansprechpartner der MaßnahmeDr. Petra Wilke
Chefärztin Zentrale Notaufnahme
petra.wilke@klinikumffo.de
Struktur- und Leistungsdaten – Kennzahlen 2011
Planbetten835
PatientInnen stationär27.867
Ärztinnen/Ärzte insgesamt (außer Belegärztinnen/Belegärzte)229,6
Gesundheits- und KrankenpflegerInnen408,5
Gesundheits- und KinderkrankenpflegerInnen37,9
KrankenpflegerInnen13,3
PflegehelferInnen1,8
Projektmotivation/-vorbereitung

Ausgangslage

  • jährliche Anstiegsraten von 1.500 PatientInnen/Jahr
  • unstrukturierte, nicht standardisierte Ersteinschätzung
  • Unübersichtlichkeit der Abläufe und Behandlungsdringlichkeit
  • rudimentäre juristische Dokumentation
  • fehlender Schmerzstandard
  • eingeschränkte und mit hohem Personalressourcen verbundene Datenevaluierung
  • hohe Anzahl an Patientenbeschwerden (Wartezeit und Aufenthaltsdauer)
  • Übergabeproblematik Rettungsdienst (Voralarmierung)
  • fehlende Transparenz und Sicherstellung der Wertschöpfungskette
  • defizitäre Versorgung durch fehlende interdisziplinäre, leitlinienkonforme Standardvorgehensweisen (SOPs) und Personal-Rotation
  • Kommunikationsdefizite und fehlende Übersicht
  • eingeschränkter Ressourceneinsatz

Planungen im Vorfeld

  • Geschäftsführung
  • Chefärztin Zentrale Notaufnahme

Am Projekt beteiligte Berufsgruppen/Personen

  • Ärztinnen/Ärzte
  • Pflegekräfte

Externe Projektförderung und Kooperationen

  • nein
Projektumsetzung

Ziele

  • Es wurden drei Zielbereiche mit je eigenen Anforderungen definiert:
    • Anforderungen Risikomanagement:
      • Validierte, standardisierte symptomorientierte 5-Punkt-Ersteinschätzung der Behandlungspriorität direkt nach administrativer Aufnahme
      • Juristisch verwertbare Dokumentation (Behandlungspriorität, Vitalparameter)
      • klinische Risikohinweise/Warnfunktionen (z.B. pathologische Vitalparameter)
      • Validierung
      • zentrales Monitoring
      • symptomorientierte Pfadprofile
    • Anforderungen Patientenversorgung:
      • Zeitgerechte Versorgung (Behandlungsdringlichkeit)
      • Schmerzstandard/Schmerzevaluierung
      • Klinische Pfadanbindung zur symptomorientierten Ersteinschätzung
      • Leitliniengerechte, interdisziplinäre SOPs (Integration in die klinischen Pfade)
      • ubiquitäre Verfügbarkeit der SOPs (EDV-systemunterstützt, klinische Pfade)
      • Dokumentation (Diagnostikabläufe etc.)
    • Erfassung von Kennzahlen / Prozessanalyse:
      • Prozesszeiten
      • Erfassung von vorgegebenen Zeitüberschreitungen
      • Ressourcen (Konsildienste, Funktionsdiagnostik, Labor, Bildgebung)
      • Validierungen (vor/nach-Zustand)
      • Case-Mix
      • Einweiserstatistik

Projektdauer

  • Seit Anfang 2009
Projektbeurteilung

Maßnahme zur Evaluation

  • Die Behandlungspfade der Notaufnahme wurden mehrfach ausgewertet, in Reviews analysiert und konsentiert angepasst.
  • Monatlich wurden randomisiert 2% aller PatientInnen durch die pflegerischen Ersteinschätzungs-Beauftragten auf Validität und vollständige Dokumentation evaluiert (verwendete Diagramme/Indikatoren/Dokumentation).
  • Zusätzlich erfolgte ärztlicherseits jährlich eine Auswertung von 2.300 PatientInnen (Fallzahl eines Monats), inwieweit die Ersteinschätzung pflegerischerseits mit dem ärztlichen Untersuchungsbefund sowie der Aufnahmediagnose und der daraus resultierenden klinischen Behandlungsdringlichkeit korrelierte. Die Auswertung ergab unter Kombination von Manchester Triage System/Emergency Severity Index eine Sensitivität von 96% sowie eine Spezifizität von 99%.
  • Monatlich werden Patientenbefragungen durchgeführt. Die Anzahl der Patientenbeschwerden ging von bis zu drei pro Tag auf 0,5 pro Monat zurück.

Rückblickend besonders erfolgreich/gelungen

  • Die Behandlungsqualität in der Zentralen Notaufnahme konnte nachweisbar erhöht werden.
  • Die Prozesse konnten in sinnvoller Weise verändert werden.
  • Die Motivation der MitarbeiterInnen wurde deutlich verbessert.
  • Die Teambildung ist sehr erfolgreich.

Rückblickend erfolglos/nicht gelungen

  • Das Tempo der Veränderungen war anfangs etwas zu hoch.
  • Um die MitarbeiterInnen aufgrund der vielen Veränderungen nicht zu überfordern, sollte man das Veränderungstempo im Auge behalten.
Eingeführte Maßnahme
  • Entwicklung eines EDV-Programms, welches auf einem als Einstiegs-Score verwendeten symptomorientierten Ersteinschätzungssystem basiert mit direkter Anknüpfung von leitliniengerechten Behandlungsempfehlungen durch flexible patientenorientierten Behandlungspfaden als prozessorientiertes Instrument.
  • Umgesetzt wurde ein 5-stufiges Ersteinschätzungssystem mit hoher Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität. Die klinischen Behandlungspfade ermöglichen eine Empfehlung des standardisierten Vorgehens. Sie ermöglicht die Abbildung und Dokumentation der Behandlungspfadschritte nach gegebenem Muster, bei völligem Erhalt der Therapiefreiheit der Ärztin/des Arztes.
  • Neben dem ursprünglich an das Manchester Triage System (MTS) angelehnten Ersteinschätzungsverfahrens wurde die standardmäßige Erhebung von Vitalparametern implementiert und mit der Behandlungspriorität verknüpft (Emergency Severity Index (ESI)).
  • Etablierung eines Schmerzstandards in der Ersteinschätzung: Analgetika-Applikation im Rahmen der ärztlichen Delegation durch examinierte Pflegekräfte.