Segregatives Konzept der Interdisziplinären Demenzabteilung (IDA)

Die interdisziplinäre Demenzabteilung der Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus bietet Patienten mit Demenz einen weitgehend stressfreien Klinikaufenthalt mit minimierten Risikofaktoren in der Behandlung.

Datum:

15.10.2019

Ort:

Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus

Interviewpartner:

Sven Braun, Pflegedirektor

Themenkategorie:

„Neue Arbeitsteilung und Prozessgestaltung“

Maßnahme:

Segregatives Konzept der Interdisziplinären Demenzabteilung (IDA)

Projektanlass
Rund bei jedem fünften Patienten des Paul-Lechler-Krankenhauses lag als Nebendiagnose eine Demenz vor. Nahezu vier Fünftel dieser Patienten zeigten dabei ein herausforderndes Verhalten, welches häufig mit nächtlicher Unruhe, Umtriebigkeit und Aggressivität den Umgang mit diesen erschwerte. Der Zeitaufwand für die Versorgung der Demenzpatienten war deutlich erhöht. Mit einem neuen Konzept sollte die Versorgung dieser Patienten verbessert und die Patientensicherheit erhöht werden.  

Projektumsetzung
Ein Neubau im Klinikum eröffnete die Möglichkeit, einen speziell abgegrenzten Bereich mit insgesamt acht Betten für Patienten mit einer akuten internistischen Erkrankung und der Nebendiagnose Demenz einzurichten. Die Patienten sollen mobil oder mobilisierbar sein, um an den angebotenen Aktivitäten teilnehmen zu können.

Die Ziele des Projekts sind, das Niveau der Patienten-Selbstständigkeit mindestens zu erhalten und die Selbstbestimmung der Patienten mit Demenz zu wahren. Das Auftreten von herausfordernden Verhaltensweisen sowie die Delirrate sollten präventiv gesenkt werden. Insgesamt soll den betroffenen Patienten ein sicherer Krankenhausaufenthalt mit Behandlung ermöglicht werden. Des Weiteren soll die Sicherheit der Mitarbeiter im Umgang mit demenziell erkrankten Patienten erhöht und die Zufriedenheit der Mitarbeiter, Patienten und Angehörigen gesteigert werden.

Die Kernelemente des therapeutischen Konzepts bestehen aus dem Einsatz von zusätzlichen Alltagsbegleitern, tagesstrukturierenden Maßnahmen, Mobilisation, Schlafförderung, aktivierend therapeutischer Pflege, größtmöglicher Kontinuität der betreuenden Personen, Gruppenaktivitäten im Aufenthaltsraum und Gruppentherapie/Geschichtenwerkstatt.

Die Mitarbeiter auf der IDA sind grundsätzlich alle für das Thema Demenz über Tagesseminare (z.B. demenz balance-Modell, Integrative Validation) oder auch im Rahmen von geriatrischen Fort- und Weiterbildungen qualifiziert. Alltagsbegleiter nehmen als Ergänzung zum klinischen Personal eine tragende Rolle ein und werden täglich von 7:30 Uhr bis 13:15 Uhr und 14:30 Uhr bis 20:15 Uhr an 365 Tagen im Jahr eingesetzt. Diese verfügen über die Zeit, die den Pflegepersonen für die individuelle Zuwendung und Beschäftigung oftmals fehlt.

Die Gestaltung des Neubaus der Klinik sollte sowohl stressarm sein als auch Reizarmut vermeiden. Die neue Umgebung sollte in erster Linie Geborgenheit vermitteln, Orientierung geben, Sicherheit gewährleisten und Aktivitäten fördern. Auch auf die engmaschige Einbeziehung der Angehörigen wird großer Wert gelegt.

Projektbeurteilung
Das Konzept kann in Umfragen Mitarbeiter und Angehörige überzeugen. Die Befragten waren sich darüber einig, dass das IDA-Konzept die Hinlauftendenz bei den Patienten verringert und deren Selbstbestimmung bewahrt. Das Niveau der Selbstständigkeit der Patienten bleibt erhalten oder verbessert sich, die Patienten essen und trinken mehr und sind ruhiger sowie weniger umtriebig. Insgesamt erhalten die Patienten viele Anreize, sich außerhalb des Zimmers aufzuhalten, was ihre Zufriedenheit steigert und Mobilisation fördert.
Mitarbeiter schätzen in diesem Zusammenhang die Alltagsbegleiter als sehr wertvoll und entlastend ein. Die Mitarbeiter fühlen sich seit der Einführung des Konzeptes zudem weniger erschöpft nach Schichtende, haben eine erhöhte Sicherheit im Umgang mit Menschen mit Demenz und verspüren eine größere Arbeitszufriedenheit.

Name des Krankenhauses
AnschriftTropenklinik
Paul-Lechler-Krankenhaus
Paul-Lechler-Straße 26
72076 Tübingen
Klinikleitung
Geschäftsführung
Wolfgang Stäbler

Chefarzt
Dr. med. Johannes-Martin Hahn

Pflegedirektor
Sven Braun
Website
https://www.tropenklinik.de
Ansprechpartner der MaßnahmeDipl. Pflegewirt Sven Braun
Tel. 07071/206-381
braun@tropenklinik.de
Struktur- und Leistungsdaten
Anzahl der Betten im gesamten Krankenhaus90
Ärztinnen/Ärzte insgesamt (außer Belegärzte)16
Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen47
Altenpfleger/-innen2
Pflegehelfer/-innen8
Projektmotivation / -vorbereitung

Ausgangslage

  • Rund bei jedem fünften Patienten des Paul-Lechler-Krankenhauses lag als Nebendiagnose eine Demenz vor.
  • Nahezu 80 % dieser Patienten zeigten dabei ein herausforderndes Verhalten, welches häufig durch nächtliche Unruhe, Umtriebigkeit und Aggressivität den Umgang mit diesen erschwerte.
  • Stark belastend, wenn auch selten, waren Patienten mit psychotischen Symptomen.
  • Der Zeitaufwand für die Versorgung der Demenzpatienten war deutlich erhöht.
  • Mit einem neuen Konzept sollte die Versorgung dieser Patienten verbessert und die Patientensicherheit erhöht werden.  

Am Projekt beteiligte Berufsgruppen/Personen

  • Geschäftsführung
  • Pflegekräfte
  • Ärzte
  • Therapeuten
  • Alltagsbegleiter
  • Stabsstelle Qualitätsentwicklung
  • Öffentlichkeitsarbeit
  • Diätassistenz
  • Hauswirtschaft
  • Küche

Externe Projektförderung und Kooperationen

  • Anschubfinanzierung durch die Lechler-Stiftung bis 31.12.2020 (3 Jahre), danach Regelfinanzierung durch die Klinik
Projektumsetzung

Projektziele

  • Niveau der Patienten-Selbstständigkeit mindestens erhalten
  • Selbstbestimmung der Patienten mit Demenz wahren
  • Auftreten von herausfordernden Verhaltensweisen senken
  • Delirrate präventiv senken
  • Sicheren Krankenhausaufenthalt und Behandlung ermöglichen
  • Sicherheit der Mitarbeiter im Umgang mit demenziell erkrankten Patienten erhöhen
  • Verweildauer senken und der durchschnittlichen Verweildauer aller Patienten annähern
  • Zufriedenheit der Mitarbeiter, Patienten und Angehörigen steigern

Eingeführte Maßnahmen

  • Die Kernelemente des therapeutischen Konzepts bestehen aus:
    • dem Einsatz von zusätzlichen Alltagsbegleitern (täglich von 7:30 Uhr bis 13:15 Uhr und 14:30 Uhr bis 20:15 Uhr an 365 Tagen im Jahr)
    • tagesstrukturierenden Maßnahmen (z.B. feste Visitenzeiten, gemeinsames Essen in Aufenthaltsraum),
    • Mobilisation (Gymnastik)
    • Schlafförderung,
    • aktivierend therapeutischer Pflege,
    • größtmöglicher Kontinuität der betreuenden Personen,
    • Gruppenaktivitäten im Aufenthaltsraum (z.B. Kochen, Singen, Spielen)
    • Gruppentherapie/Geschichtenwerkstatt (Zeitungs- und Literaturrunde, Biografie- bzw. Erinnerungsarbeit)
  • Demenzsensible Umgebungsgestaltung:
    • Demenzsensible Raumgestaltung, die Stabilität geben und Sicherheit gewährleisten soll (keine Fernsehgeräte in den Patientenzimmern, abschließbare Schränke, dieselben Bilder an Zimmertür und im Zimmer (Wiedererkennung), große Uhren)
    • In den Flurbereichen die Außentüren mit Tapeten kaschiert (optische Barriere)
    • Sitzbereich mit Bildern alter Stadtansichten
    • Aufenthaltsraum mit Küchenzeile, wo Aktivitäten angeboten werden und gemeinsam gegessen wird
    • Durchgehend mindestens 500 Lux Beleuchtung
    • Begehbarer und begrünter Innenhof lädt zum Aufenthalt und zur Bewegung ein (z.B. Bepflanzung der Hochbeete)
  • Die Mitarbeiter auf der IDA sind grundsätzlich alle für das Thema Demenz über Tagesseminare (z.B. demenz balance-Modell, Integrative Validation) oder auch im Rahmen von geriatrischen Fort- und Weiterbildungen qualifiziert.
  • Auf die engmaschige Einbeziehung der Angehörigen wird großer Wert gelegt.
  • Einführung eines Spätdienstes bis 23 Uhr, um Nachtdienst zu entlasten
Projektbeurteilung

Auswirkungen der Neuerungen auf die Berufsgruppen und das Klinikum

  • Mitarbeiter schätzen in diesem Zusammenhang die Alltagsbegleiter als sehr wertvoll und entlastend ein.
  • Mitarbeiter fühlen sich seit der Einführung des Konzeptes weniger erschöpft nach Schichtende, haben eine erhöhte Sicherheit im Umgang mit Menschen mit Demenz und verspüren eine größere Arbeitszufriedenheit.

Maßnahmen zur Evaluation und Ergebnisse

  • Das Konzept kann in Umfragen Mitarbeiter und Angehörige überzeugen (Begleitevaluation durch Hochschule Esslingen [Wolke et al. 2020, Projektbericht Evaluation der Interdisziplinären Demenzabteilung für die Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus. Hochschule Esslingen]):
    • Ergebnisse Angehörigenbefragung: Die Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus wird ihrem Gesamtziel, die Versorgung von Patient*innen mit kognitiven Einschränkungen, insbesondere von Patient*innen mit Demenz, zu verbessern, gerecht.
    • Ergebnisse Mitarbeiterbefragung: Die Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus hat im Vergleich zu allen anderen Krankenhäusern (Vergleichskohorte aus der G-NWI-Studie [Neuauflage RN4Cast]), bezogen auf die Beurteilung der Arbeitsumgebung/-atmosphäre ihres Arbeitsplatzes, eine höhere Mitarbeiter*innenzufriedenheit. Des Weiteren besitzt die Tropenklinik eine höhere Personalbindung als der Durchschnitt aller anderen untersuchten Krankenhäuser in Deutschland hat.
    • Niveau der Selbstständigkeit der Patienten bleibt erhalten oder verbessert sich (Barthel Indizes im Jahr 2018 bei Patienten im Durchschnitt bei Entlassung um 7,97 Punkte höher als bei Aufnahmeassessment: verblindete Aktenanalyse von Patienten mit Demenz und Delir bei Interventions- und Kontrollstation)
    • Hinlauftendenz bei den Patienten verringert
    • Selbstbestimmung der Patienten wird bewahrt
    • Patienten essen und trinken mehr und sind ruhiger sowie weniger umtriebig
    • Insgesamt erhalten die Patienten viele Anreize, sich außerhalb des Zimmers aufzuhalten, was ihre Zufriedenheit steigert und Mobilisation fördert.